Antwort an Frau Andrea Nahles von einem Ex-Fallmanager (wg. Todesfall)
Frau Andrea Nahles zuständig und damit verantwortlich unter anderem für die aktuell geltenden Gesetze im Bereich ALG II ("Hartz IV"), also für das Sozialgesetzbuch Zwei (SGB II) drückte ab 03.12.2014 ihr Bedauern und ihr Beleid angesichts eines Todesfalles in einem jobcenter aus.
Berichte u.a. hier:
http://www.bild.de/news/inland/bundesagentur-fuer-arbeit/messer-attacke-jobcenter-38823362.bild.html
oder hier:
http://www.badische-zeitung.de/panorama/gutachter-im-jobcenter-erstochen--95794258.html
und auch hier:
https://www.nwzonline.de/blaulicht/toedliche-attacke-im-jobcenter-gutachter-stirbt_a_21,0,264060696.html
Meine Antwort darauf ist diese:
Guten Tag, Frau Nahles.
Zunächst einmal verurteile und bedauere ich diese Tat ebenfalls sehr. Und auch ich spreche hier gern mein Beileid aus!
Diese Aussagen stehen so im Raum, haben und behalten ihre Gültigkeit.
In etlichen Kommentaren zu Ihren Verlautbarungen finden sich aber (auch) viele kritische Stimmen zum System Hartz IV. Absolut zu Recht.
Und dies sage ich nicht als betroffener ALG II - Empfänger - dies sage ich als ehemaliger qualifizierter Fallmanager in einem jobcenter. Ich bin Staatlich anerkannter Erzieher, Diplom - Sozialarbeiter (FH), sowie Magister Artium der Erziehungswissenschaft (Nebenfächer Psychologie und Soziologie). Außerdem bin ich ehrenamtlicher Suchtkrankenhelfer und habe einen Interessensschwerpunkt im Interkulturellen Bereich (gehöre aber keiner Kirche, Sekte noch Partei an).
Nach einigen Jahren als Sozialfachkraft im Sozialamt war ich von Anfang an dabei, ab 2005. Anfang 2010 erkrankte ich an Krebs und versuchte nach 16 Monaten Behandlung den Wiedereinstieg. Innerhalb von 5 Monaten bosste mich die neue Führung im jobcenter hinaus, zurück zum "entsendenden Arbeitgeber", einer Stadtverwaltung.
Offiziell wurde angezweifelt, ich könne evtl. nicht mehr die "durchschnittlich erfoderliche Leistung erbringen". Das mag sein - hat aber nichts mit mir zu tun - sondern es gilt für alle Mitarbeiter_innen. Ursprünglich waren versprochen "ca. 75 Fälle" (und das steht auch heute noch im Konzept ...).
Mein Spitzenwert lag bei 436 zu betreuenden, "begleitenden" Menschen.
Und SOO besonders war das bei uns nicht.
Ein Nachweis wurde niemals erbracht - dennoch musste ich "freiwillig" gehen.
Seit 2012 also war ich zurück beim "entsendenden Arbeitgeber" ... erwähnen muss ich noch: ich bin KEIN Beamter, unterliege also seit Mai 2005 (TVöD - Einführung) keiner besonders erhöhten Loyalitätspflicht mehr.
Ich war im jobcenter ein engagierter, kreativer Mitarbeiter - aber auch einer, der Sanktionen grundsätzlich für das hielt, was sie sind: sinnlos, unlogisch, ineffektiv und nicht human. Zusammen mit zwei anderen Kollegen hatte ich in den ersten Jahren eine interne Petition für bessere Arbeitsbedingungen zugunsten Aller gestartet. Gut 2/3 der Kolleg_innen unterschrieben.
Eine Zeitlang war dies dann im Gespräch, wurde offiziell zur Kenntnis genommen ... und versandete dann.
... ob dies wohl mit ein Grund war, mich nach meiner schweren Krankheit zu entfernen? Behaupten ... darf ich es nicht. Denn so etwas ist ja unbeweisbar.
Im privaten Bereich setzte ich ab 2012 meine Kritik an Hartz IV fort und stellte mich inhaltlich auch eindeutig an die Seite von Inge Hannemann.
(Foto: privat)
Stets achtete ich darauf, keine Namen und Orte zu nennen und immer als reine Privatperson zu agieren, in dem Sinne, dass ich meinen AKTUELLEN Arbeitgeber in KEINER Weise kritisierte, oder darauf hinwies, wo ich denn nun konkret arbeite.
All` dies nutzte mir nichts.
Ich bin 57 Jahre alt. Anerkannter Schwerbehinderter. 22 Jahre lang durchgehend vollzeit im Öffentlichen Dienst beschäftigt und gut und vielseitig qualifiziert. Gern übernahm ich zusätzliche Ehrenämter, wie Sicherheitsbeauftragter, Wahlhelfer, Ordnungs- und Löschdienst, etc. Und nie gab es eine Missbilligung oder gar Abmahnung.
Am 17.11.2014 wurde ich zum Obersten Personaler meines jetzigen Arbeitgebers gerufen. Ich erhielt ein kurzes Schreiben. Danach musste ich in Begleitung in mein Büro gehen, durfte auf Nachfrage noch schnell meine Sachen zusammen packen und musste dann meine Schlüssel und meinen Zeitchip abgeben. Ich war mit "sofortiger Wirkung freigestellt" und mit blitzenden Augen verkündete man mir, wenn nur irgend möglich, werde man mir kündigen!
Drei Dinge wurden mir - ERSTMALS - mündlich in Vorhalt gebracht (mein direkter Vorgesetzte, der Abteilungsleiter, wusste davon übrigens nichts!):
a) Ich habe in einem meiner Blogs (in dem ich für eine genehmigte Nebentätigkeit - Suchtkrankenhilfe - werbe) trotz Aufforderung nicht geändert, dass ich bei der Stadtverwaltung "XY" arbeite. Das ist definitiv falsch und der schriftliche Gegenbeweis liegt vor.
b) Ich habe eine Kritik an eine Ortsvorsteherin gesandt, als Reaktion auf die Werbung für ein Stadtteilfest, die alle Mitarbeiter_innen erhielten. Das ist richtig. Rechtschreibfehler, fehlende Genderung und ein wirklich nicht gelungenes Foto (menschenleer) fand ich nicht optimal, auch hinsichtlich der Außenwirkung. Ich hatte dies durchaus neutral formuliert und habe diese konstruktive Mitarbeit gern geleistet.
Und schließlich - und damit kommen wir m. E. zum Punkt:
c) Ich habe eine regionale, angemeldete und genehmigte Hartz IV - kritische Kundgebung durchgeführt. Das sei zwar mein Recht. Aber zum Teil sei auch meine Unterhose mit Superman - Aufdruck zu sehen gewesen. Und ich habe das sogar in einem anderen Blog von mir dokumentiert.
Dadurch habe ich den Ruf der Stadtverwaltung "XY" in unzulässiger Weise geschädigt.
Der Vorhalt ist inhaltlich richtig. Ich bin privat u.a. auch Performer und das ist auch belegbar und nachweisbar. Dabei kommen diverse Kunstformen zum Einsatz, u.a. trat ich einmal mit gut 80 umgehängten Krawatten auf (zugunsten Organisationen im Bereich Emanzipation / Feminismus).
Unter der Unterhose trug ich, nebenbei bemerkt, noch eine weitere und dies bildete auch nicht den Hauptteil der Veranstaltung.
Nie und mit keinem Wort kritisierte ich meinen AKTUELLEN Arbeitgeber. Nie und mit keinem Wort erwähnte ich, wo und für wen ich aktuell arbeite.
Als ich noch im jobcenter arbeitete, geschah dies auf Grundlage des SGB II, ich erfüllte Bundesaufgaben.
Der Vorwurf ist also m.E. falsch.
Dennoch droht mir, als 57jährigem Schwerbehinderten, die Arbeitslosigkeit - und einige Zeit darauf auch Hartz IV.
Dass ich eine andere Arbeit finden könnte: ein lächerlicher Gedanke. Für die Rente hingegen bin ich noch so einige Jahre zu jung.
Ich habe dies jetzt einmal in epischer Breite geschildert, um zu zeigen, wie selbst mit den "eigenen Leuten" umgegangen wird.
Ich stimme nicht mit jedem hasserfüllten Schimpfwort überein, das verzweifelte ALG II - Empfängerinnen ins Internet hineinrufen.
Und es gibt auch einige, wenige Kritikpunkte, die man noch ein zweites Mal prüfen sollte.
Aber insgesamt gesehen ist die Kritik absolut berechtigt!
Allein das System der Sanktionen ist unwürdig, unethisch - und auch vollkommen nutzlos!
Falsche interne und externe Anreize, groteske EDV, Geschenke an Massnahmeträger und die Wirtschaft / Firmen, etc. pp. - runden das negative Gesamtbild ab.
Nein, es sind KEINE neuen Sicherheitstruppen, Alarmsysteme und Schutzmauern notwendig. Absolut nicht!
Nötig sind genügend qualifizierte und motivierte Mitarbeiter_innen in den jobcentern, denen nicht suggeriert wird, die Senkung der "passiven Leistungen" (und damit indirekt auch die Sanktionsquote) sei das Goldene Kalb. Und nötig sind Mitarbeiter_innen die über das Instrument der Sanktion NICHT verfügen und demzufolge auch nicht unter dem massiven Druck stehen, es anzuwenden.
Die Quote der "Zwischenfälle" würde schlagartig um mehr als 90% sinken. Unter aller Garantie.
Ja ... - aber belohnt man denn da nicht die Faulen und Unwilligen?
Nein!
Näheres dazu ersehen Sie - bei Interesse - hier:
http://kopfmahlen.blogspot.de/2013/12/streichung-der-sanktionen-im-hartz-iv.html
MfG
Burkhard Tomm-Bub, M.A.
Ex - Fallmanager
Diesem Offenen Brief zum Thema schließe ich mich vollinhaltlich an!
http://www.ahnenforschung-ellguth.de/wordpress/offener-brief-an-die-bundesregierung-zur-situation-von-erwerbslosen/