Sonntag, 22. Juni 2025

Ein ARTIKEL zum Thema ICD-11

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CHRONISCH KRANK, OFFIZIELL GESUND?
Warum Deutschland bei der ICD-11 zögert – und was das für Betroffene bedeutet

Seit Januar 2022 ist die ICD-11, die 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, offiziell in Kraft. Sie wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt, um Krankheiten weltweit einheitlich zu kodieren, zu erfassen und zu behandeln. In über 35 Ländern ist die ICD-11 bereits implementiert – doch Deutschland gehört nicht dazu. Hierzulande gilt weiterhin die ICD-10, ein System aus den 1990er-Jahren, das mit modernen medizinischen Erkenntnissen nur bedingt Schritt halten kann. Die Folge: Für viele Patientinnen und Patienten bedeutet das nicht nur bürokratische Hürden, sondern auch handfeste Nachteile in Diagnose, Therapie und sozialrechtlicher Anerkennung.

Wer entscheidet, was als Krankheit gilt?

Die WHO, gegründet 1948 als Sonderorganisation der Vereinten Nationen, koordiniert weltweit Maßnahmen im Bereich Gesundheit. Ihre Aufgabe ist es unter anderem, wissenschaftliche Standards zu setzen – und dazu gehört die Pflege der ICD (International Classification of Diseases). Dieses Klassifikationssystem dient nicht nur der Statistik, sondern auch der Abrechnung medizinischer Leistungen, der Forschung, und nicht zuletzt: der Anerkennung von Leid.

Während die ICD-10 noch stark symptomorientiert arbeitet, erlaubt die ICD-11 eine viel differenziertere Einordnung von Erkrankungen – inklusive neuer Kapitel etwa zu postviralen Syndromen, chronischen Infektionen oder komplexen psychischen Störungen. Der medizinische Fortschritt findet hier endlich auch in der Systematik statt – zumindest theoretisch.

Borreliose und Co: neue Codes für alte Leiden

Insbesondere Menschen mit chronischer Borreliose oder Co-Infektionen (z. B. Bartonellose, Babesiose) blicken mit Hoffnung auf die ICD-11. Denn: Während ihre Beschwerden häufig massiv einschränkend sind – mit Erschöpfung, Gelenkschmerzen, neurologischen Symptomen – werden sie im bestehenden ICD-10-System oft unzureichend oder gar nicht abgebildet. In der ICD-11 hingegen findet sich nicht nur ein neuer Code für „persistierende Infektionen mit Borrelia burgdorferi“ (1C1G.0), sondern auch eine differenziertere Erfassung anderer infektiöser Erreger, die bisher kaum eine Rolle spielten – darunter Babesien, Bartonellen und andere, teils durch Zecken übertragene Pathogene. Die ICD-11 anerkennt, dass eine Infektion nicht immer mit dem Ende der antibiotischen Therapie erledigt ist.

Diese differenziertere Systematik wäre für viele ein Befreiungsschlag. Doch solange Deutschland an der ICD-10 festhält, gelten diese Diagnosen hierzulande nicht. Das hat Folgen: Ärztliche Gutachten werden angezweifelt, Reha-Maßnahmen abgelehnt, Therapien nicht übernommen. Viele Betroffene bleiben in einer rechtlichen Grauzone – medizinisch ernst zu nehmen, aber statistisch nicht existent.

Auch psychische Diagnosen differenzierter

Die Vorteile der ICD-11 beschränken sich keineswegs auf die Infektiologie. Auch im Bereich der psychischen Erkrankungen wurde überarbeitet, ergänzt und neu strukturiert. Diagnosen wie komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS), Zwangsspektrum-Störungen oder auch neuroentwicklungsbedingte Störungen sind in der ICD-11 differenzierter dargestellt als je zuvor. Gerade für Patient:innen mit überlappenden Beschwerden – etwa bei Traumafolgestörungen und somatischen Erkrankungen – kann das entscheidend sein für eine passgenaue Therapie. Kurz gesagt: Die neue Klassifikation erkennt besser an, dass Körper und Psyche kein Schwarz-Weiß-System sind.

Zwischen Aktenlage und Lebensrealität

Der Verweis auf „fehlende Evidenz“ bei Langzeitverläufen mag aus Sicht der Krankenkassen wirtschaftlich nachvollziehbar erscheinen – für Betroffene bedeutet das jedoch oft eine jahrelange Odyssee durch das Gesundheitssystem. Sie sind „nicht krank genug“ für Unterstützung, aber auch „nicht gesund genug“ für ein normales Leben. In dieser Grauzone stehen nicht nur Borreliose-Patient:innen, sondern auch Menschen mit Long COVID, ME/CFS, komplexen Traumafolgestörungen oder postviralen Syndromen, die ebenfalls von einer zeitgemäßen Klassifikation profitieren würden.

Und es bleibt nicht bei medizinischen Hürden: Viele dieser Menschen „bluten“ mit der Zeit nicht nur körperlich und seelisch, sondern auch finanziell aus. Private Ausgaben für Diagnostik, Spezialärzt:innen, alternative Behandlungen, nicht erstattete Medikamente oder juristische Verfahren zur Anerkennung der Erkrankung summieren sich – oft über Jahre. Währenddessen läuft das Erwerbsleben entweder auf Sparflamme oder kommt ganz zum Erliegen. Ohne offizielle Anerkennung durch eine aktualisierte ICD-Klassifikation bleibt auch der Zugang zu Sozialleistungen erschwert oder unmöglich.

Fortschritt? Ja, aber bitte nicht zu schnell

Ironie am Rande: Deutschland bezieht sich auf die WHO, wenn es um Pandemien, Impfpläne oder Reisewarnungen geht – doch bei der Umsetzung internationaler Standards wie der ICD-11 hinkt man hinterher. Der angestrebte Termin für die Einführung in Deutschland? Voraussichtlich nicht vor 2027. Und auch das ist optimistisch gerechnet.

Das Bundesgesundheitsministerium begründet die Verzögerung mit dem notwendigen technischen und administrativen Aufwand – und verweist auf nationale Anpassungen. Doch die Leidtragenden dieser Verzögerung sind klar: es sind nicht etwa die Systeme, sondern die Menschen. Wer heute krank ist, braucht keine theoretische Anerkennung in zwei Jahren. Sondern heute.

Fazit: Fortschritt auf dem Papier – aber nicht in der Praxis

Die ICD-11 ist ein wichtiger Schritt hin zu einem besseren Verständnis komplexer Krankheitsbilder. Doch solange ihre Umsetzung in Deutschland auf sich warten lässt, bleibt dieser Fortschritt Theorie. Für tausende Betroffene bedeutet das: weiter kämpfen, um ernst genommen zu werden – auf Rezeptblock, im Wartezimmer und vor Gericht.

(Burkhard Tomm-Bub, M. A., 6/2025)

Quellen (Auswahl):
– WHO: https://www.who.int/standards/classifications/classification-of-diseases
– DIMDI/BfArM: Statusberichte zur ICD-11-Einführung in Deutschland
– Deutsche Borreliose-Gesellschaft e. V.: Positionspapiere zur Persistenz-Diskussion (2022–2024)
– Kameda, G. (2023): Die ICD-11 und ihre Bedeutung für chronische Infektionen, Fachzeitschrift MedPraxis
– Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): Stellungnahmen zur ICD-11
– Schrader, L. (2024): Chronisch erschöpft und ohne Diagnose – Patienten zwischen System und Stigma, Reportage in „Gesundheit konkret“




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